„White Saviorism Complex“ – Das problematische Helfersyndrom der Weißen

Besonders junge, weiße Menschen aus Europa und den USA scheinen zunehmend das Bedürfnis zu haben, den globalen Süden durch die Teilnahme an einem Freiwilligendienst zu „retten“, weil sie den Eindruck haben, dieser bestehe nur aus Wellblechhütten und hungernden Kindern. Redakteurin Lena Biesenbach erklärt, inwiefern diese vermeintlichen Wohltaten rassistische Stereotype reproduzieren.

Unter Weißen scheint es zur allseits beliebten Praktik geworden zu sein, mit mitleidigen Gefühlen auf den globalen Süden zu schauen und dementsprechend zu handeln. Wie die freie Autorin und Redakteurin Fabienne Sand im Podcast a mindful mess 2019 erklärt, verspüren vor allem Menschen europäischer Abstammung zunehmend den Drang zu helfen und sind der Meinung, sie könnten Gutes tun, indem sie vor Ort sogenannte „Entwicklungshilfe leisten. Dieses Phänomen hat auch einen Namen: White Saviorism Complex (zu dt. etwa „Weiße*r Retter*in-Komplex“). Der Begriff wurde vor allem durch den im Jahr 2012 veröffentlichten Essay The White-Savior Industrial Complex des nigerianisch-amerikanischen Schriftstellers Teju Cole geprägt. Der Begriff White Saviorism bedeutet für Cole, dass privilegierte weiße Menschen in den globalen Süden reisen und sich dann über Fotos und Social Media als Retter*innen inszenieren, indem sie Narrative und Denkweisen aus der Kolonialzeit aufgreifen. Damit implizieren sie – bewusst oder unbewusst – die Bedürftigkeit der Menschen vor Ort.

Freiwilligendienst in „Entwicklungsländern“

Jedes Jahr absolvieren allein aus Deutschland knapp 4000 junge Menschen mit weltwärts, einem Programm des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, einen Freiwilligendienst im Ausland. Das Prinzip des Freiwilligendienstes ist mit der Annahme verknüpft, dass Länder des globalen Südens häufig als sogenannte „Entwicklungsländer“ kategorisiert werden. Dieser Begriff suggeriert jedoch, dass die Länder „unterentwickelt“ seien – und anstatt aus eigener Kraft handeln zu können, auf die Hilfe von außenstehenden Akteuren aus dem globalen Norden angewiesen seien. Durch diese Hilfe „von außen“ ist es lokalen Initiativen nicht möglich, eventuelle Probleme in Eigenregie zu lösen, wodurch Fachkräfte vor Ort ihrer Arbeit nicht nachgehen können. Programme wie weltwärts müssen sich oftmals der Kritik stellen, dass die Entsendung privilegierter, weißer Freiwilliger nicht zum Abbau globaler (und nationaler) Ungleichheit beitrage, sondern diese im Gegenteil eher reproduziere, wie Daniel Skoruppa in seiner Masterarbeit über die Freiwilligenorganisation weltwärts aus dem Jahr 2018 erklärt.

Inszenierte Rettungsmissionen für Social Media

Eine große Rolle spielen in diesem Zusammenhang inszenierte „Rettungsmissionen“, die vorrangig das Ziel haben, das eigene emotionale Ego der „weißen Retter*innen“ zu pushen – auf Kosten der Bevölkerung vor Ort. Dieses Gefühl gipfelt in Selbstdarstellung auf Social Media und der damit verbundenen Anerkennung durch andere. Da im Rahmen von Projekten und Freiwilligendiensten nicht der zeitliche Rahmen vorhanden sei, um wirklich etwas zu bewegen, haben diese vermeintlichen Hilfsaktionen, wie Fabienne Sand erklärt, keinen langfristigen Mehrwert. Damit ist die kurz angelegte Hilfe alles andere als nachhaltig. Es stellt sich die Frage, wem der Freiwilligendienst schlussendlich wirklich nützt.

Reproduktion rassistischer Narrative

Von Kindheit an bekommen wir durch Bilder und Spendenkampagnen vermittelt, dass es allen Menschen in sogenannten Entwicklungsländern furchtbar schlecht zu gehen scheint. Besonders um die Weihnachtszeit sind vermehrt Fotos präsent, z.B. auf Plakaten oder Flyern von Hilfsorganisationen wie der welthungerhilfe oder Misereor, die hungernde, traurige und verwahrlost wirkende Kinder abbilden. In einigen Fällen spiegeln diese Bilder die prekären Verhältnisse der lokalen Bevölkerung wider – keinesfalls repräsentieren sie jedoch die Lebensrealität der Gesamtheit der Menschen, die auf dem afrikanischen Kontinent oder in Südostasien leben. Dadurch, dass sie allerdings immer wieder gezeigt und reproduziert werden, setzen sie sich in unseren Köpfen fest. Das hat zur Folge, dass wir mit bestimmten Ländern ein sehr spezifisches, stereotypisiertes Bild assoziieren – das der „armen Menschen, die sich selbst nicht zu helfen wissen“. Diese einseitige und simplifizierte Perspektive begünstigt die Entwicklung rassistischer Denkmuster, die sich folglich auch in rassistischem Handeln niederschlagen können.

Koloniale Verantwortung

Im Zusammenhang mit Freiwilligenarbeit bzw. entwicklungspolitischer Arbeit darf dennoch eine enorm wichtige Perspektive nicht vergessen werden – die koloniale Verantwortung westlicher Nationen. Der White Saviorism Complex hindert vor allem weiße Menschen daran, sich den Ursachen vieler Problematiken, wie Hunger, Armut, Gewalt und sozialer Ungleichheit bewusstzuwerden, die in der Kolonialgeschichte eben dieser Nationen liegen. White Saviors sollten das eigene Handeln hinterfragen, damit Länder des globalen Südens nicht mehr „als Kulisse, als Zentrum potenzieller Held*innengeschichten“ inszeniert werden, wie Redakteurin Fabienne Sand es formuliert. Vor Antritt eines Freiwilligendienstes sollten sich Interessierte die Frage stellen, ob sie Armut und Ungleichheit nicht lieber vor Ort, im eigenen Land bekämpfen wollen, dessen Sprache, Kultur und Gemeinschaft ihnen vertraut sind, anstatt durch ihre vermeintliche Hilfe rassistische Denkmuster einmal mehr zu reproduzieren.


Quellen:

* Artikelbild von Rebekah Blocker / unsplash


Über die Autorin:
Lena Biesenbach

…hat irgendwas mit Literatur- und Sprachwissenschaft in Bonn und Paris studiert. Wenn sie nicht gerade versucht, ihren Öko-Lifestyle so gut es geht zu optimieren, geht sie ihrer Leidenschaft, dem Dancehall, nach oder versucht, andere Menschen für gendergerechte Sprache zu sensibilisieren.

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