Immer wieder fühlen sich weiße Menschen ungerecht behandelt, wenn es um Rassismus geht. Und zwar nicht nur die engstirnigen Alten rechts der sogenannten Mitte. Lydia Kühl teilt ihre Gedanken zur verbreiteten Bedeutsamkeit vergleichbar bedeutungsloser Gefühle.
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Skandal um Dieter Nuhr
Da haben wir ihn schon wieder. Den mittelalten, weißen[1] Mann, der es geschafft hat, sich Sendezeit in der ARD zu ergattern und sich dort auf blamable und fälschliche Art und Weise über Rassismus zu äußern. Der Komiker hatte sich über den Titel des Buches von Alice Hasters‘: „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten“ echauffiert und die Autorin als rassistisch bezeichnet. Wenn wir mal davon absehen, dass Dieter Nuhr Alice Hasters‘ Buch nicht einmal gelesen hat, bleiben zwei weitere Problematiken: Zum einen geht sein Wissen um Rassismus scheinbar über die ersten paar Sätze des Wikipediaartikels nicht hinaus. Zum anderen fühlt sich der arme Kerl offensichtlich ungerecht behandelt.
Zugegebenermaßen führen die genannten Tatsachen nicht unbedingt zu großer Verwunderung, da sich vermutlich ein Großteil der deutschen Mehrheitsgesellschaft vergleichsweise wenig mit dem Thema konfrontiert gesehen hat. Doch auch links der politischen „Mitte“ lassen sich genau diese Dieter Nuhrs finden. Daher sollten wir uns vielleicht, um es in seinen Worten zu sagen, dieser „Scheinintellektualität der arroganten Linken“ widmen.

Foto: Felipe Pelaquim / unsplash.com
Gefühlschaos Rassismus
Auch ich zähle mich zu dieser so charmant umschriebenen Gruppe: irgendwie links, irgendwie jung und definitiv weiß. Genau aus diesem Grund möchte ich mich, mit dem Wissen, dass ich nicht die erste bin, unserem großem Dilemma mit dem Thema Rassismus annehmen.
Ich möchte ungern ausschweifend darauf eingehen, wie häufig Kommentare wie „es gibt auch Rassismus gegen weiße“ oder die immer wieder beliebte Verwendung von Exotismen in dem eigenen Umfeld auftauchen. Dass Rassismus tief in unserer Gesellschaft verwurzelt ist und dazu beiträgt, Machtstrukturen zu erhalten, sollte uns nicht zuletzt durch die Bücher von Noah Sow, Alice Hasters, Tupoka Ogette, Reni Eddo-Lodge etc. auf den Boden der Tatsachen geholt haben.
Ich möchte lieber darüber sprechen, dass unsere Empfindungen verbunden mit dem Thema uns den Weg verstellen und so einen zutiefst bedrückenden Stillstand hervorrufen.
Bei der Konfrontation mit unseren eigenen Rassismen verspüren viele von uns eine Bandbreite von Empfindungen: Abwehr, Wut, Empörung. Wir lehnen die Aussagen ab, vom rassistischen System zu profitieren. Wir werden wütend, wenn man uns einer Eigenschaft beschuldigt, die wir grundlegend versuchen, von uns fernzuhalten. Wir sind empört darüber, dass Reni-Eddo-Lodge laut Buchtitel scheinbar mit uns weißen nicht mehr über Rassismus reden möchte. Spoiler: Damit meint sie eine bestimmte Gruppe von Menschen.
Und wir aufgeklärten jungen Leute verspüren Scham. Scham darüber, dass unser Wissen um Rassismus vielleicht auch nur einige Wikipedia-Zeilen weiter reicht als das von Dieter Nuhr. Scham darüber, dass uns die Verstrickung unseres eigenen Weißseins doch nicht so bewusst war, wie wir dachten.
Das Problem à la Annelie Boros
Vielleicht haben wir es aber auch geschafft, unsere Abwehr zu lösen, unsere Wut zu bändigen, unsere Empörung zu drosseln und unser Schamgefühl wegzustecken. Dann stehen wir gutmeinenden Menschen noch immer vor einem Problem: dem Problem à la Annelie Boros, das in einem 26 Minütigen Dokumentarfilm wieder aufgegriffen wurde: „Fuck White Tears“. Boros kam nach Südafrika, um einen Film über dortige Studierendenproteste von Schwarzen Studierenden zu drehen. Ihre Unterstützung wurde abgelehnt. Sie wurde aufgefordert, ihr Projekt abzubrechen und ihre weißen Privilegien zu überdenken. Dies stürzte sie in eine kleine Krise.
So auch uns. Denn wir befinden uns in einem ähnlichen Dilemma. Wir möchten auf Rassismus aufmerksam machen, gegen Rassismus ankämpfen, über Rassismus reden. Es reicht uns nicht, „dear white people“ auf Netflix zu schauen oder Oma Hilde zu erklären, warum der Begriff „Schwarzafrikaner“ eine rassistische Konnotation besitzt. Wir wollen Gutes tun, dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft einen gerechteren Weg einschlägt. Doch nicht zu selten bekommen wir die Rückmeldung, dass wir als weiße, die nicht betroffen sind, uns zurücknehmen oder ganz raushalten sollen.
Und da ist es schon wieder: das Gefühlschaos. Denn manchmal, auch wenn wir es nicht zugeben wollen, fühlen wir uns ungerecht behandelt.
weiße Tränen
Ich habe das „wir“ mit Absicht gewählt. Nicht etwa, um mich zu verstecken, hinter einer von mir kreierten Masse. Ich habe das „wir“ gewählt, da ich aus zahlreichen Gesprächen weiß, dass einige Menschen meine Empfindungen teilen.
Die ganzen traurigen Empfindungen darüber, was wir wollen, was wir nicht wollen und wie ungerecht es doch ist, dass wir manches einfach nicht machen sollen. Halte ich mir einen Spiegel vor die Nase, schaue ich in mein weißes Gesicht und frage mich: Wie haben wir es hinbekommen, unsere Gefühle und Bedürfnisse wieder in den Mittelpunkt zu stellen? Wie können wir als weiße Mehrheitsgesellschaft, nicht nur die Dieter Nuhrs unter uns, die Empfindungen von Rassismus betroffener Menschen noch immer in Frage stellen, aber unsere eigenen Empfindungen unhinterfragt stehen lassen?Wie können wir das Thema Rassismus angehen, wenn unsere Gefühle das vernebeln, was eigentlich wichtig ist? Ich werde an dieser Stelle meine Fragen nicht selbstgefällig beantworten oder eine moralisierende Rede schwingen. Ich bin nicht in der Position, dies zu tun und bin mir sicher, nie in dieser Position sein zu werden. Denn selbst, wenn es nicht die eine Verhaltensformel gibt, die uns weiße, gutmeinende Menschen aus unserem Dilemma führt, haben bereits viele Menschen mit Rassismuserfahrung die Antworten auf meine Fragen vorgelegt.
Nun habe ich einen Text darüber geschrieben, den eigenen vergleichsweise nichtigen Gefühlen keine Bedeutung beimessen zu wollen und es genau dadurch getan. Ich erkenne natürlich die Ironie darin und muss mir eingestehen, dass ich mich von den Gefühlen noch nicht ganz losmachen kann. Ich werde nun also mein Bestes geben, die aus der eigenen Position und Situation entstandene Unsicherheit nicht zur Rigidität werden zu lassen. Ich werde versuchen, zu lernen, zu verstehen, einzusehen, mich zurückzunehmen und dann die großen, weißen Krokodilstränen wegzuwischen.
[1] “Weiß” wird in anti-rassistischer und rassismuskritischer Literatur häufig klein und kursiv geschrieben, um deutlich zu machen, dass es hierbei nicht um eine biologische Eigenschaft oder Hautfarbe, sondern um eine politische und soziale Konstruktion geht, die mit einem Machtgefälle einhergeht. (Amnesty International 2017)
*Artikelbild von Mike Von / unsplash.com
Über die Autorin:

…hat für ihre Masterarbeit in der Polizei geforscht (Thema Racial Profiling und institutioneller Rassismus), arbeitet bei der Jugendpresse und ist grundsätzlich immer die erste auf der Tanzfläche.