Rassistische Polizeigewalt in Frankreich – ein weitverbreitetes Phänomen

Das Thema der rassistischen Polizeigewalt beherrscht zunehmend die französische Nachrichtenlandschaft. Das liegt nicht nur daran, dass eine grundsätzliche Zunahme von Polizeigewalt zu verzeichnen ist, sondern auch an neuen, medialen Möglichkeiten der Dokumentation dieser Vorfälle. Auch wenn die Polizei in Frankreich „das Monopol auf legitime Gewalt“ innehat, ist diese Gewalt für viele Stimmen illegitim. Manche sprechen sogar von „grundloser Gewalt“ (frz. „violence gratuite“), wenn sie durch persönliche Vorurteile von Polizist*innen ausgelöst wird, die häufig allein auf den phänotypischen Merkmale einer Person beruhen.

Auch wenn laut dem französischen Gesetz „das Ausüben jeglicher Art von Gewalt, eine Straftat darstellt und damit illegal ist“, darf die Polizei, wenn es absolut notwendig ist, ein bestimmtes Maß von Gewalt anwenden. So dürfen Polizist*innen beispielsweise Versammlungen nach zwei wirkungslosen Warnungen unter Einsatz von Gewalt zerstreuen. Trotz dieser strengen Vorschriften wird der Missbrauch polizeilicher Gewalt gegenüber bestimmten ethnischen Gruppen von der Bevölkerung teilweise heftig kritisiert und als ungerecht oder illegitim angesehen. Der erste bekannte Todesfall im Zusammenhang mit Polizeigewalt ereignete sich am 17. April 1950 im westfranzösischen Brest: Bei einer gewerkschaftlichen Demonstration für bessere Lohnbedingungen in der Firma Renault-Billancourt wurde der Demonstrant Edouard Mazé von der Polizei durch einen Kopfschuss getötet. Seitdem hat die Polizeigewalt Dutzende weiterer Opfer gefordert, darunter auch Cédric Chouviat, der bei einer Verkehrskontrolle von drei Polizeibeamten in Bauchlage festgehalten wurde, bis er erstickte. Ein Video des Vorfalls und Tonaufnahmen von einem Mikrofon am Helm des Opfers konnten belegen, dass Chouviat vor seinem Tod sieben Mal sagte: „Ich ersticke“.

Polizeigewalt auf dem Vormarsch

Seit 2017 erfasst das nationale Institut der Polizei in Frankreich (IGPN) die Zahl der Personen, die bei Polizeieinsätzen verletzt oder getötet wurden. Dabei kommt das IGPN auf durchschnittlich zehn bis 17 Tote und mehr als hundert Verletzte. Laut dem unabhängigen Online-Medienportal Bastamag.net beläuft sich die Zahl der Todesopfer jedoch auf 120. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass diese Hochrechnung unter anderem auch Terroristen umfasst, die während eines Anschlags von der Polizei getötet wurden. Aktuelle Zahlen des IGPN zeigen dennoch einen Anstieg der Polizeigewalt von 41 % zwischen 2018 und 2019. Von den 1.460 erfassten Fällen waren 868 auf vorsätzliche Gewalt zurückzuführen. Dieser Anstieg scheint mit der Gelbwestenbewegung zusammenzuhängen (310 Fälle). Nach deren Protesten waren in Frankreich viele Klagen gegen die Ordnungskräfte eingereicht worden.

Die meisten dieser Gewaltakte werden von der Bevölkerung als unverhältnismäßig oder unrechtmäßig angesehen. In letzter Zeit haben zahlreiche Demonstrationen und Kundgebungen stattgefunden, um auf die bestehende Polizeigewalt aufmerksam zu machen oder um den Opfern zu gedenken. Der gewaltsame Angriff auf den Musikproduzenten Michel Zecler am 21. November 2020 löste erneut Proteste aus. Bei einer Polizeikontrolle auf dem Weg zu seinem Pariser Musikstudio war Zecler von Polizisten als „schmutziger Neger“ beschimpft und zusammengeschlagen worden. Dank einer Sicherheitskamera, die den Vorfall aufgezeichnet hatte, lagen handfeste Beweise vor, um einen Urteilsspruch wegen Beamtenbeleidigung oder eines anderen „erfundenen Vergehens“, wie es die Zeitung „La Libération“ in einem Artikel ausgedrückt hatte, zu umgehen. Gegen die drei Polizeibeamten wurden ein Verfahren wegen vorsätzlicher Gewalt „mit mehreren erschwerenden Umständen, einschließlich dem des Rassismus“ eingeleitet.

Rassistische Polizeigewalt ein strukturelles Problem

Von „grundloser Gewalt“ ist die Rede, wenn eine Einzelperson oder eine Gruppe von mehreren Individuen ohne ersichtlichen Grund angegriffen, gelyncht oder getötet wird. Als grundlos könnte man auch die Polizeigewalt bezeichnen, die auf Diskriminierung beruht. Laut Bastamag.net sind die Opfer von diskriminierender Polizeigewalt typischerweise „junge Männer, die aus den Arbeitervierteln, dem Maghreb oder Schwarzafrika stammen“. Wie Zahlen der französischen unabhängigen Menschenrechtsinstitution „Defenseur des droits“ zeigen, hat die Mehrheit der Betroffenen von Polizeigewalt Migrationshintergrund. Zwischen 2012 und 2017 wurden 80 Prozent der jungen schwarzen Personen und Personen arabischer Herkunft von der Polizei kontrolliert. Die Zahl der Kontrollen der übrigen Bevölkerung beläuft sich im Vergleich dazu lediglich auf 16 Prozent. Strafverfolgungsbehörden scheinen die Herkunft der Personen anhand von physischen Merkmalen zu bestimmen. Diese Praktik wird auch als „racial profiling“ bezeichnet. Der Begriff beschreibt die Erstellung des Gesamtbildes einer Persönlichkeit basierend auf ethnischen Parametern oder mithilfe von Gesichtskontrolle. Anders als soziologisches Profiling oder Profiling zur Strafverfolgung beruht „racial profiling“ auf Vorurteilen der Strafverfolgungsbehörden, die bereits im Vorhinein bestehen.

Rassismus, der von der Polizei ausgeht, kann verschiedene Formen annehmen. Es kommt auch vor, dass rassistische Äußerungen innerhalb des Polizeiapparats zirkulieren und gegen schwarze Beamte*innen oder Beamte*innen aus den Maghrebstaaten gerichtet werden. Nach Berichten der Zeitung „La Libération“ haben in den letzten Monaten zahlreiche aus den Maghreb-Staaten und der Subsahara stammende Polizist*innen auf rassistische Anfeindungen von ihren Kolleg*innen aufmerksam gemacht. Im September 2020 erstattete ein Betroffener Anzeige gegen die Polizei. Seinen Angaben zufolge hatte die Polizei versucht die Diskriminierung, das Mobbing und den Rassismus, den er erlebt hatte, zu vertuschen.  

Eine Parallele zur Situation in den USA

Auch in den Vereinigten Staaten gibt es immer wieder Tote und Verletzte durch rassistische Polizeigewalt. Am 25. Mai 2020 wurde der 46-jährige Afroamerikaner George Floyd von einem – kürzlich gerichtlich für schuldig befundenen – Polizeibeamten getötet. Dieser Vorfall führte zu einer Welle von mehrheitlich pazifistischen Protesten der „Black Lives Matter“- Bewegung, die sich seit 2013 gegen strukturellen Rassismus gegen Schwarze und rassistisch motivierte Polizeigewalt einsetzt. „I can’t breathe“ (dt. „Ich kann nicht atmen“), die letzten Worte, die Floyd vor seinem Tod gesagt hatte, wurden zum Leitsatz der Proteste. Auch bei Demonstrationen gegen Polizeigewalt in Frankreich kam diese Protestparole neben anderen wie „Stop aux violences policières!“ (dt. „Stoppt Polizeigewalt!“), „Stop à l’impunité !“ (dt. « Stoppt Straflosigkeit!“) oder „Pas de justice, pas de paix !“ (dt. „Keine Gerechtigkeit, kein Frieden!“) zum Einsatz. Wie in den Vereinigten Staaten fordern auch in Frankreich immer mehr Stimmen die Abschaffung der umstrittenen und gefährlichen Festnahmetechnik der „Fixierung in Bauchlage“, die zum Tod durch Ersticken führen kann.

Umstrittenes Gesetz zum Schutz von Polizisten

Zusätzlich zu den Protestbewegungen gegen Polizeigewalt ist ein wachsendes Gefühl des Hasses gegenüber der Polizei zu beobachten, das unter anderem durch Graffiti im öffentlichen Raum, durch verbale Gewalt und durch körperliche Übergriffe auf Polizeibeamt*innen zum Ausdruck kommt. Obwohl die Polizei eigentlich ein Gefühl der Sicherheit vermitteln sollte, geben viele Französinnen und Franzosen an, sich durch die Ordnungskräfte vielmehr verunsichert als geschützt zu fühlen.

Die Französinnen und Franzosen neigen dazu, der Regierung vorzuwerfen, dass nichts gegen die Gewalt unternommen wird. So werden unter anderem die gerichtlichen Urteile als zu milde empfunden. Viele sind auch der Meinung, dass die Gewalt vielmehr vom Staat noch gefördert werde. Zuletzt hatte die Verabschiedung des Gesetzes „Sécurité global“ (dt. „Globale Sicherheit“) am 15. April 2021 für Aufregung gesorgt: Das Gesetzt verbietet das Filmen von Polizeieinsätzen. Auch die anschließende Veröffentlichung des Videomaterials ist untersagt. Polizeiliche Einsatzkräfte können nun leichter Gewalt ausüben, da sie kaum noch durch filmisches Beweismaterial belastet werden können. Das löste in Frankreich eine weitere Protestwelle aus, da das Gesetz als ein Zeichen für die Unterstützung der Ordnungskräfte und ihrer teilweise als unrechtmäßig empfundenen Gewaltakte verstanden wurde. Eines ist sicher: Die Frage nach rassistischer Polizeigewalt und ihren Folgen wird so schnell nicht aus der Aufmerksamkeit der Medien und der Zivilgesellschaft verschwinden.  


Quellen:

*Artikelbild von ev / unsplash


Über den Autor:
Mattéo Zussy

Mattéo Zussy ist Sprachschüler und absolviert dieses Jahr (2020/21) einen Freiwilligendienst über das DFJW (Deutsch-Französische Jugendwerk) beim Studierendenwerk Freiburg  in der Abteilung des Internationalen Clubs.

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