Das ist wirklich Europa

Von Katrin Wien

Erinnerungen an das Flüchtlingslager Idomeni in Griechenland. Bild: Jim Black

Die Asylpolitik an den europäischen Außengrenzen ist in den Medien ein vieldiskutiertes Thema. Europäische Grenzschutzbehörden in Polen, Griechenland oder auf dem Balkan halten Geflüchtete mit modernster Überwachungstechnologie von der Einreise in die EU ab und verweigern Hilfsgüter.

An der polnisch-belarussischen Grenze herrscht Ausnahmezustand. Etwa 7.000 Geflüchtete sollen sich laut der polnischen Regierung derzeit in Belarus aufhalten. Mindestens 17 Menschen sind dort bereits gestorben, berichtet die zivilgesellschaftliche Gruppierung Seebrücke. Todesursachen sind unter anderem Erfrieren oder fehlende Medikamente. Wie viele es tatsächlich sind, weiß niemand, da Beobachter:innen oder Ärzt:innen nicht in die „Emergency Zone“ – den Grenzstreifen, in dem der Ausnahmezustand gilt – eindringen dürfen. Aus demselben Grund fehlen dort Hilfsgüter, Nahrungsmittel und Medikamente.

Was sich an der polnisch-belarussischen Grenze abspielt, ist ein Machtkampf. Die EU wirft Staatschef Alexander Lukaschenko nicht nur Wahlbetrug, sondern auch eine sogenannte „hybride Kriegsführung“ vor: er instrumentalisiere Geflüchtete und mache Migration zur „Waffe“, wie es in einem Bericht von Deutschlandfunk heißt. Mit dem Druck auf die Europäische Union versucht Lukaschenko, die Aufhebung der gegen ihn verhängten Sanktionen zu erpressen. Polen will deshalb für 350 Millionen Euro eine Mauer zur belarussischen Grenze errichten. Sie soll 5,5 Meter hoch und etwa 200 Kilometer lang sein, ausgestattet mit hochsensiblen Bewegungsmeldern und Wärmebildkameras.

Modernste Technologien wie diese kommen im Grenzschutz der EU immer häufiger zum Einsatz. Hunderte Millionen Euro hat die EU als zentraler Geldgeber in den letzten zehn Jahren für Überwachungstechnologien an ihren Außengrenzen ausgegeben. Mit Militärdrohnen, Spezialkameras und automatisierten Überwachungssystemen will sie Geflüchtete von der Einreise in die Europäische Union abhalten. Die EU-Kommission finanzierte auch das im September neu eröffnete Lager für Geflüchtete auf der griechischen Insel Samos, das Insassen als europäisches „Guantanamo“ bezeichnet haben. Drei von fünf dieser Camps sind schon gebaut, zwei sollen noch folgen.

Illegale Push-Backs auf dem Balkan

Ein kroatischer Nachrichtensender sendete Anfang Oktober Filmaufnahmen, auf denen zu sehen ist, wie maskierte Männer auf kroatischem Gebiet Asylsuchende gewaltsam nach Bosnien zurücktreiben. Die Schutzsuchenden hatten nicht die Möglichkeit bekommen, einen Asylantrag zu stellen.

Die Schlagstöcke und Jacken, die die Maskierten tragen, lassen darauf schließen, dass sie zur kroatischen Bereitschaftspolizei gehören. Die Aufnahmen stammen von einem europäischen Rechercheverbund, dem unter anderem die ARD, der „Spiegel“, der Reporter-Pool Lighthouse Records und kroatische Medien angehören.

Solche Kollektivausweisungen sind laut Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention illegal. Nach europäischem Recht haben Asylsuchende einen Anspruch auf eine individuelle Prüfung ihres Asylantrags – vorher dürfen sie nicht zurückgewiesen werden.

Vermeintlich illegale Push-Backs, wie sie auf den Aufnahmen zu sehen sind, streitet Kroatien seit langem ab. Chandra Esser von der Nicht-Regierungsorganisation Border Violence Monitoring bestätigt gegenüber tagesschau.de das gewaltsame Vorgehen der kroatischen Grenzbehörden: „Die systematischste Gewalt geht von der kroatischen und der ungarischen Polizei aus. Da können wir wirklich die Gewaltpraktiken vergleichen“, sagt Esser. Seit 2016 veröffentlicht die Organisation monatliche Berichte über illegale Push-Backs in Griechenland und auf dem Balkan.

„Ist das hier wirklich Europa?

Die britische Forscherin für Soziologie und internationale Beziehungen, Karolina Augustova, hat für eine achtmonatige Feldstudie mit Geflüchteten in der Grenzzone in Bosnien-Herzegowina gelebt und sie interviewt. „Den Menschen wird hier Geld und Kleidung abgenommen, oft kommen dabei auch psychologische und sexuelle Gewalt zum Einsatz“, erzählte sie im Livestream der jährlichen Tagung des Rats für Migration, die am 25. November diesen Jahres in Dresden stattfand.

Ein Vorfall hatte Augustova besonders schockiert: Die slowenische Polizei habe eine muslimische Frau gezwungen, ihr Kopftuch abzunehmen und sich nackt auszuziehen. „Die Behörden beleidigten sie und sagten ihr, dass das hier Europa und nicht Afghanistan oder der Islam sei.“ Aufgrund ihrer ethnischen Herkunft seien Frauen hier oft sexueller Gewalt ausgesetzt, Männer würden ungerechtfertigt zusammengeschlagen. Viele Geflüchtete, mit denen die Forscherin sprach, seien von den gewaltsamen Übergriffen überrascht gewesen und fragten sich: „Ist das hier wirklich Europa?“ 

Um der Gewalt zu entgehen und die Grenze passieren zu können, ohne aufzufallen, haben die Geflüchteten laut Augustova eigene Strategien entwickelt:  Um „europäischer“ zu wirken, rasierten sich muslimische Männer den Bart oder trügen christliche Symbole, wie Halsketten mit Kreuzen. „Statt einem schwarzen Freund schloss sich ein Geflüchteter einem hellhäutigen Fremden an, um bei den Grenzbehörden weniger Aufmerksamkeit zu erregen“, so Augustova.

Frontex zentraler Akteur im europäischen Grenzschutz

Neben nationalen Grenzbehörden ist vor allem die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex (französisch: frontières extérieures – Außengrenzen) ein zentraler Akteur, wenn es um den Schutz der europäischen Außengrenzen geht: Die Grenzschutzagentur soll Mitgliedstaaten der EU und Schengen-assoziierte Staaten wie die Schweiz dabei unterstützen, die EU-Außengrenzen vor illegalen Grenzüberschreitungen und Kriminalität zu schützen. Finanziert wird sie durch den EU-Haushalt und durch Beiträge der assoziierten Schengen-Länder.

Nicht-Regierungsorganisationen, die sich für Menschenrechte und die Rechte von Asylsuchenden einsetzen, werfen Frontex regelmäßig Verstöße gegen international geltendes Flüchtlingsrecht vor. Die Grenzschutzagentur stand unter anderem jahrelang in der Kritik, weil sie offenkundig mit Milizen in Libyen zusammengearbeitet und Asylsuchende auf dem Weg nach Europa aufgehalten und zurückgebracht hat. Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention sieht aber vor, dass Menschen nicht zurückgewiesen werden dürfen, wenn ihnen in ihren Herkunftsländern besondere Gefahr für ihr Leben oder ihre Freiheit droht.

Für zwei Push-Back-Operationen wird sich die Grenzschutzbehörde vor dem Europäischen Gerichtshof verantworten müssen. Bei den Fällen handelt es sich um eine Frau aus Burundi und einen 15 Jahre alten Jungen aus der Demokratischen Republik Kongo, die im vergangenen Jahr auf der Insel Lesbos Schutz gesucht hatte. Die Menschenrechtsorganisation Front-Lex hatte im Mai Klage gegen Frontex eingereicht. 

Menschenrechtsorganisationen fordern Umdenken

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte forderte Polen mehrmals dazu auf, die Situation an der Grenze zu Belarus zu entschärfen. Geflüchtete in der Grenzregion sollten Nahrung und Kleidung erhalten und Kontakt zu Anwälten herstellen können, hieß es. Als Mitglied der EU ist Polen dazu verpflichtet, diese Maßnahmen einzuhalten. Der Gerichtshof äußerte sich bisher nicht dazu, ob das Land den Anweisungen folgt.

An der polnisch-belarussischen Grenze versuchen Menschenrechtsorganisationen und freiwillige Helfer:innen dem Widerstand der Behörden zu trotzen und Hilfsbedürftige zu versorgen. Auch NGOs wie beispielsweise Pro Asyl oder Seebrücke setzen sich für die Rechte von Geflüchteten ein und fordern ein Umdenken in der europäischen Grenzpolitik. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hilft Geflüchteten im Asylverfahren und recherchiert Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ruft andere EU-Länder dazu auf, mehr Solidarität zu zeigen und betroffene Länder besser zu unterstützen.

Über die Autorin
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Katrin Wien

Kaddy ist in der Nähe von Freiburg aufgewachsen und nach Offenburg gezogen, um „irgendwas mit Medien“ zu studieren. Sie vertreibt sich die Zeit gerne damit, die Natur zu erkunden, wobei sie unter anderem Inspiration fürs Schreiben findet.

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